Eine konkrete Utopie

A.s Geschichte

A., eine berufstätige Frau, verheiratet, 4 Kinder, vertraut sich bei einem Elterngespräch der Sozialarbeiterin des Kindergartens an. Ihr Mann mißhandelt sie, schon seit längerem. Die Kinder sperrt er häufig ein, statt sie in den Kindergarten zu bringen, wie verabredet.

In Absprache mit A. startet die Sozialarbeiterin eine Nachbarschaftsinitiative. Auch Polizei und soziale Dienste werden informiert. Ziel ist, A.s Mann dazu zu bewegen, die Kinder nicht mehr einzusperren und seine Frau in Ruhe zu lassen.
Treffen werden organisiert. MitarbeiterInnen lokaler sozialer Einrichtungen, aber auch zahlreiche AnwohnerInnen, vom Hafenarbeiter bis zur Hausbesetzerin machen mit. Ein Nachbar hat von seiner Frau gehört, dass Hilfe gebraucht wird. Die hat davon im Wartezimmer beim Arzt erfahren. Er kommt beim Unterstützungskreis vorbei, gibt seinen Schichtplan ab und sagt: „Wenn ich keine Schicht hab, könnt ihr mich einplanen.“
Ein Nachbar, er ist Schreiner, repariert und verstärkt A.s, Wohnungstür, damit der Mann sie nicht mehr auftreten kann. Eine Telefonkette mit nächtlichem Bereitschaftsdienst wird eingerichtet. Der Ehemann hat eine Pistole. Einmal schießt er durch die Fenster in die Wohnung. Wenn der Mann wieder randaliert und wenn sie Angst hat, kann A. jeweils zwei Leute von der Liste anrufen. Die kommen dann zu ihrer Unterstützung vorbei. Tagsüber sitzen ein halbes Jahr lang für mehrere Stunden immer drei Leute vor dem Haus und signalisierten dem Mann: A. ist nicht allein. Wir sind da!

Um dem ständigen Druck und der Bedrohung eine Weile zu entkommen flüchtet A. mit den Kindern ins Frauenhaus. Danach wollen sie aber alle wieder zurück in die alte Wohnung. Das ist eher ungewöhnlich. Die meisten Frauen, die sich vom Partner trennen, suchen sich eine neue Bleibe. Sie wollen nicht so leicht gefunden werden, erhoffen sich Anonymität – aus Angst vor fortgesetzter Gewalt und aus Scham über das, was ihnen zugestoßen ist. Bei A. ist das anders. Sie hat auch Angst. Aber sie weiß, sie hat die Unterstützung von NachbarInnen, von der Kirche und vom Stadtteilzentrum. Und die Kinder haben dort ihre FreundInnen, ihre Schule, den Kindergarten. Der Stadtteil ist ihr zu Hause.
A. erfährt, dass ihr Mann die Wohnung völlig verwüstet hat, kaum etwas ist noch heil. Trotzdem. Sie will dorthin zurück.

Als es soweit ist, werden sie mit Kuchen und Blumen empfangen. Fast alle sind gekommen: die Erzieherinnen vom Kindergarten, die Sozialarbeiterin, der Pastor, Mitarbeiterinnen des Stadtteilzentrums, nähere und fernere NachbarInnen. Und: die Wohnung ist frisch renoviert. Während ihrer Abwesenheit haben die UnterstützerInnen die Wände gestrichen, eine neue Küche eingebaut und einen Teppich in A.s Lieblingsfarbe besorgt.

Der Mann taucht noch eine ganze Weile immer wieder vor der Wohnung auf, droht. A. steht das mit der Rückendeckung ihrer Nachbarschaft durch. Ihr stadtteilöffentlich gewordenes Beispiel bewirkt, dass eine andere Frau, die vom Mann geschlagen wird, Rat bei der Sozialarbeiterin sucht. Die Eheleute beginnen eine Paarberatung bei ihr. Ein weiterer Mann lässt sich wegen seiner Gewalttätigkeit an „Männer gegen Männergewalt“ weitervermitteln und besucht dort ein Gruppenangebot.1^

Diese Geschichte wird weiter erzählt. Sie inspiriert eine konkrete Utopie:

  • NachbarInnen drehen nicht den Fernseher lauter, wenn Schreie aus der Nachbarwohnung hallen, sondern machen ihn aus und hören hin. Sie unterbrechen die Gewalt, indem sie schnell an der Haustür klingeln, sie rufen die Polizei, sie aktivieren andere NachbarInnen, sie bieten Unterstützung an.

  • Häusliche Gewalt wird zum öffentlichen Thema.

  • Die Schule integriert das Thema in den Unterricht. Das Stadtteilzentrum bietet Selbstbehauptungs- und Deeskalationstrainings an. Männer setzen sich mit Männern zusammen, reden über Gewalt, darüber was man dagegen tun kann. Bei sich und anderen. Der zentrale Platz im Viertel wird unbenannt. Er trägt den Namen einer Frau, die von ihrem Mann ermordet wurde. Im Schaufenster vom Gemüseladen hängt ein Plakat mit den Nummern von Frauenhäusern und Beratungsstellen. Und beim Friseur und in der Kneipe und in der Arztpraxis sowieso. Frauen huschen nicht mehr mit Sonnenbrille durchs Treppenhaus, weil sie sich ihrer Misshandlung schämen, sondern gehen offen und selbstbewusst mit der Situation um. Sie wissen, sie werden auf Verständnis und Unterstützung treffen und nicht auf Hilflosigkeit oder gar dumme Sprüche. Sie können freier wählen, ob sie ins Frauenhaus gehen oder nicht.

  • Lokale, soziale Netze werden zum (Über-)Lebensmittel und stoppen die Partnergewalt.